Forum blickt über Quartiersgrenze

Was passiert mit der Leonhardskirche und dem Quartier? Forum-Vorstand Eberhard Schwarz gibt im Stadtpalais Antworten

Eberhard Schwarz (li.) im Gespräch mit Bezirksbeirat Kaemmr (Grüne). H

Was passiert mit der Leonhardskirche? Die Frage scheint aus Sicht des Vereins Forum Hospitalviertel und aller Menschen in diesem Quartier von geringem Interesse. Allerdings trügt der Schein. Denn die Arbeit des Vereins im Sinne der Quartiersentwicklung weist immer weit über die Grenzen des Viertels hinaus. Immer wieder ist die Expertise des Forum Hospitalviertel gefragt – auch beim Verein Leonhardsvorstadt. Vor allem Vorstandsmitglied Eberhard Schwarz nimmt dabei die Rolle des Ratgebers, Mitdenkers oder Mahners ein. Zuletzt sogar in einer Doppelrolle. Bei einer Veranstaltung der Stadt Stuttgart, wo über die Entwicklung der Leonhardsvorstadt informiert wurde, trat Schwarz in seinem Redebeitrag einerseits als Interims-Pfarrer der Leonhardskirche auf. Andererseits war er als Fachmann beim Thema Stadt- und Quartiersentwicklung gefragt.

Was Eberhard Schwarz im Stadtpalais zur Zukunft der Leonhardskirche und deren Rolle im Gesamtprozess Leonhardsvorstadt sagte, lässt sich hier nachlesen: 

„Lieber Herr Bürgermeister Pätzold, liebe Frau Bezirksvorsteherin Kienzle, sehr geehrte Mitplanende und in die Zukunft Denkende, meine Damen und Herren, zuerst möchte ich mich bedanken im Namen der Leonhardskirchengemeinde, im Namen der Stuttgarter Citykirchen und im Namen der evangelischen Gesamtkirchengemeinde Stuttgart, die juristisch gesehen die Eigentümerin der Leonhardskirche ist, für diese Initiative und für die Einladung. Und ich möchte zwei grundlegende Gedanken vorausschicken, bevor ich zum meinem Thema komme. Das erste ist – und damit widerspreche ich mir gleich selbst: die Kirchengebäude gehören nicht nur der Kirche – sie gehören auch der Stadt.

Der Kirchenraum ist auch – und damit zitiere ich den im Januar verstorbenen Stuttgarter Architekten Arno Lederer – der Kirchenraum ist auch „in allen seinen Details, Farben und Formen, eine Res publica. Also eine öffentliche Sache, die weit über den Privatheitsanspruch der einzelnen Gemeinde hinausgeht, weil sie uns alle angeht

Der Kirchenraum ist weiter eine Res publica, weil auch aus der kirchlichen Binnensicht und nach christlichem Verständnis die Menschen dort einen Ort und einen Raum haben, die nicht zwangsläufig mit der Kirche etwas zu tun haben müssen. Für die Leonhardskirche in Stuttgart gilt das, wie wir alle wissen, in besonderer Weise. Ich denke dabei nicht nur an die sieben Wochen, jeweils zwischen Januar und März, in denen die Leonhardskirche zur Vesperkirche wird und eine Offenheit und Gastlichkeit schafft, die mitgetragen wird von der Stuttgarter Zivilgesellschaft, von zahllosen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durch alle Generationen und Berufe, von großzügigen Spenderinnen und Spendern, von der städtischen Politik und bestimmt nicht zuletzt von den kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die diesen offenen Ort ermöglichen.

Ich denke weiter an die vielen Konzerte und Veranstaltungen in dem Klangraum Leonhardskirche, an die Zeiten, in denen Menschen die Offenheit des Raumes genießen und schätzen, um Atem zu holen, um sich zu sortieren oder um ganz einfach in die Geschichte unserer Stadt hinabzutauchen. Die Stadt- und ebenso die Landesgeschichte lassen sich eindrucksvoll lesen in der Leonhardskirche.

In der Architektur und in der Städteplanung wird gerne unterschieden zwischen privatem, öffentlichem und halböffentlichem Raum. Ich möchte das zuspitzen und berufe mich dabei erneut auf Arno Lederer: es gibt öffentliche Räume im Außenbereich und im Innenbereich! Und in vielen Zeiten des Jahres, nicht immer, aber in vielen Zeiten ist die Leonhardskirche auch ein öffentlicher Raum im Innenbereich. Zugegeben: Ein sehr anspruchsvoller, auch verletzlicher, sensibler Raum im Außen und im Innen! Anders gesagt: Kirchengebäude sind mehr als nur zweckgebundene Orte für eine bestimmte Kirchengemeinde. Sie sind mehr als Denkmäler. Sie sind Speicher von Geschichte und Sinn, hochsymbolische und repräsentative Orte einer Stadt, Räume der Begegnung, Orte der Verkündigung und des Feierns, des Gebets, des Innehaltens, der Musik, der Kultur und der Kunst, der Seelsorge. Schon durch ihr schlichtes Dasein sind Kirchen Botschaft, Signal, Zeichen, sind „Anderorte“, „Heterotope“ in der Stadt, so Petra Bahr, die ehemalige Kulturbeauftragte der EKD. Das ist der erste Gedanke.

Der zweite, damit unmittelbar verbundene Gedanke ist: Kirchengebäude sind dennoch keine „Fremdkörper“ in der Stadt, weil jede Stadt, jede Gesellschaft solche „Anderorte“ braucht. Sie gehören zur Stadt. Sie gehören prinzipiell schon seit Jahrhunderten zur europäischen Stadt. Sie sind nicht einfach funktionale Räume wie ein Parkhaus, ein Bürogebäude, ein Kaufhaus und dergleichen. Darüber sollten wir nachdenken, wenn es um die Entwicklung eines Stadtquartiers geht, um Handel, um Parkhäuser, um funktionale Gebäude, um Kultur um ein Film- und Medienhaus, um Wohnen, Leben, Begegnen, um die Würde von Menschen – ich denke an das Rotlichtmilieu, um die Seele der Menschen. Mir scheint, wir haben darüber noch zu wenig miteinander gesprochen und in manchen Bereichen schon recht viel geplant. Ich denke an die Situation im Chorbereich der Leonhardskirche und im Gegenüber zum Film- und Medienhaus. Wir sollten noch einmal reden.

Ein Sakralraum entwickelt sich mit dem Quartier – das ist mein Thema. Und Sie möchten zurecht erfahren, welches die Zukunftspläne für die Leonhardskirche sind. Eine Antwort liegt auch in ihrer Geschichte. Die Leonhardskirche hat sich in den vergangenen Jahrhunderten stets mit dem Quartier und mit der Stadt entwickelt. Und sie wird sich weiterentwickeln. Vermutlich weit über unsere persönliche Lebenszeit hinaus. Wer mit diesem Gebäude umgeht, hat die Pflicht, über sich und die persönlichen Interessen hinaus zu planen. Auch dafür steht dieses Kirchengebäude hier in der Stuttgarter City. Eines der wenigen, die diese historische Würde übrigens noch sichtbar machen. 

Die Leonhardskirche ist die zweitälteste Kirchengründung in Stuttgart. 1337 und auf freiem Feld und noch extra Muros und noch eine kleine Kapelle für Pilgerinnen und Pilger auf dem Jakobsweg. Die südliche Vorstadt entwickelte sich um diese Kirche herum. Noch immer trägt das Quartier den Namen des Schutzheiligen, dem diese Kapelle geweiht war: der Heilige Leonhard. Wir planen an der Leonhardsvorstadt.

 1473 wurde die Kirche erweitert: eine eindrucksvolle spätgotische dreischiffige Hallenkirche. Knapp ein halbes Jahrtausend später wurde sie im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs zerstört. Vor der Leonhardskirche bei der Kreuzigungsgruppe trafen sich die arbeitslosen Menschen in Stuttgart in den Trümmern, um Arbeit für einen Tageslohn zu finden. Warum eigentlich hier? Weil ein Gespür für den Geist dieses Ortes da war? Wir müssten Herrn Rittberger fragen. 1954 wurde die Kirche in ihrem heutigen Zustand wieder aufgebaut. Unter unglaublichen finanziellen Anstrengungen für die Nachkriegszeit. Im Detail ließe sich nacherzählen wie über sieben Jahrhunderte sich dieser Sakralraum mit dem Quartier entwickelt hat und umgekehrt wie dieser Sakralraum sich auf das Quartier und auf die Menschen ausgewirkt hat.

Was also passiert mit der Leonhardskirche?

Zuerst: Was ist bisher passiert? Es haben sich Arbeitsgruppen auf den Weg gemacht; eine Arbeitsgruppe, die sehr ambitioniert begonnen hat, die Zukunft der Leonhardskirche als diakonischen Ort weiter zu denken; die zukünftige Nutzung des Züblinparkhauses spielt für diese Arbeitsgruppe eine gewichtige Rolle; könnten dort Wohn- und Aufenhaltsangebote entstehen für Menschen mit Pflegebedarf und Behinderung? Es gibt eine weitere ebenso profilierte Arbeitsgruppe, die den Kulturaspekt – ebenfalls in Wechselwirkung mit dem Quartier und mit der Stadt denkt. Das Gustav-Siegle-Haus und seine Zukunft spielt hier eine Rolle: die Stuttgarter Philharmoniker, das Bix.

In beiden Arbeitsgruppen sind Expertinnen und Experten des öffentlichen Lebens vertreten; Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle, der Intendant der IBA Andreas Hofer, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; das Team des Amts für Stadtplanung und Wohnen. Und in beiden Arbeitsgruppen ist klar, dass dieser besondere Ort eine vielfältige Nutzung auch in Zukunft ermöglichen soll; an eine Umwidmung in einen rein säkularen Raum wie in vielen anderen Städten denkt in diesen

Arbeitsbereichen niemand. Hochschulen sind in diese Prozesse einbezogen: die Staatliche Akademie der Bildenden Künste, die Fachgruppe Architektur, die
Evangelische Hochschule Ludwigsburg, der Bereich Soziale Arbeit und Diakonie; in den kommenden Jahren wird es schon wegen der planerischen Vorläufe keine grundlegend sichtbaren Veränderungen geben; aber ich denke, es kann der Kirchengemeinde, der Kirche in Stuttgart, der Stadt nichts Besseres passieren, als sich gemeinsam auf den Weg zu machen.

So viel, meine ich, lässt sich aus heutiger Sicht sagen: Die Leonhardskirche soll kein Museum werden. Die Leonhardskirche soll auch keine weitere Markthalle oder dergleichen werden. Die Leonhardskirche soll ihr spirituelles, kulturelles und diakonisches Potenzial öffnen, vielleicht neu entdecken und erfahrbarmachen für die Menschen. Die Vesperkirche soll dort beheimatet bleiben. Die Leonhardskirche wird weiterhin ein Raum für Gottesdienste und Spiritualität bleiben – auch wenn sich hier vieles verändert. Es gibt Überlegungen, wie Kulturelles, Künstlerisches in Wechselwirkung mit den neuen Nachbarschaften sich entwickeln können. Es gibt Gespräche mit dem Bix, den Stuttgarter Philharmonikern.

Die Herausforderung für die Kirche ist groß, weil wir, wie Sie täglich in den Medien erfahren können, ebenfalls von einem gewaltigen Strukturwandel betroffen sind. Wir haben zu tun mit dem Verlust von Pfarrstellen. Im Dezember hat Pfarrer Christoph Doll die Pfarrstelle gewechselt; damit wurde die Pfarrstelle an der Leonhardskirche aufgehoben; die pfarramtlichen Aufgaben werden gegenwärtig vom Pfarramt der Hospitalkirche übernommen. Wohl gemerkt: die Leonhardsgemeinde als Körperschaft des öffentlichen Rechts existiert. Aber auch hier ist vieles im Fluss. Die nächsten Stellenkürzungen stehen vor der Tür. Wir haben als Kirche viele Hausaufgaben. Aber es wäre dramatisch, wenn wir sie ohne die Stadtgesellschaft, ohne Sie alle machen würden. Die Kirche ist auch Teil der Transformationsgesellschaf und muss ihre Rolle neu suchen und finden in Zug dieser Veränderungen. Und das ist gut so. Wie diese Gesellschaft aussehen wird, wissen wir noch nicht. Wir sehen täglich, wie fragil unser Zusammenleben ist; politisch – ökologisch – ökonomisch; und ganz besonders sozial.

Die nächsten, wichtigen Schritte sind, dass die Gesamtkirchengemeinde Stuttgart prüft, welche Sanierungs- und Veränderungsmöglichkeiten bei diesem bedeutenden denkmalgeschützten Gebäude überhaupt möglich sind. Wir wissen weiter, dass wir als Kirche an diesem Ort eine wirkliche Chance haben, die aktuelle Stadt- und Bauentwicklung im Quartier mitzugestalten; vielleicht wird die Leonhardskirche im Zuge der großen Baumaßnahmen, die unmittelbar vor uns liegen, eine Oase der Stille und des Atemholens auch für die Menschen, die hier planen und arbeiten und leben. Wir arbeiten an diesem Thema.

Es gibt viel Bereitschaft in der Kirche und auch in der Kirchengemeinde, uns mit auf den Weg zu machen in die neue Leonhardsvorstadt. Vieles müssen wir voneinander lernen und hören. Es gibt auch Ängste, die da sind und die wir gerne auch mit diesem Abend kleiner machen würden.

Danke, wenn wir alle uns dabei unterstützen. Kommen sie nachher an die Station, reden, diskutieren Sie mit uns. Wir suchen und sammeln ihre Ideen und freuen uns auf Sie.“



[1]
Arno Lederer, Lasst die Gotteshäuser einfach stehen. Wenn Kirchen aus dem
Stadtbild verschwinden, verschwindet auch der Glaube. In: ders. Drinnen ist
anders als draussen, S. 352, Berlin 2023.